Jakob Hein
Der Hypnotiseur
oder: Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken
Wenn Anika ein Glas oder auch zwei zuviel getrunken hat, dann beginnt sie zu schwärmen – von Paris, den Champs Elysee, dem Eiffelturm. Aber im Ostberlin der 1980er Jahre bleibt eine solche Reise ein unerfüllbarer Traum.
Wasser aus der Pumpe
Im kleinen Dorf Soldin im Unteren Oderbruch, auf dem alten Bauernhof von Siegfried und Gerda, werden solche Träume wahr. Da ist nämlich Micha eingezogen, ihr Enkel, ein genügsamer und etwas verschrobener Mensch, der sich nach ihrem Tod dort häuslich einrichtet: ohne Heizung, nur mit Kohleofen und Wasser aus der Pumpe, inmitten von rostigem Gerät, Gerümpel und einem klapprigen Wartburg. Eigentlich wollte er Psychologe werden, hat sich für einen Studienplatz sogar in der Armee verpflichten lassen und ist wegen einer allzu systemkritischen Hausarbeit von der Uni geflogen. Aber Hypnotisieren, das hat er noch rechtzeitig gelernt.
Einfach mal spazieren gehen
Augen zu und ab nach Paris, London oder New York. Ganz einfach. Sowas spricht sich natürlich rum, vor allem im nahen Berlin. Also macht Micha den Kranichen, der bislang einzigen touristischen Attraktion im Unteren Odertal, unfreiwillig Konkurrenz. Als nach überstandenem Totalrausch Anika für eine Woche bei Micha einzieht, stehen die Dörfler Kopf – natürlich gut versteckt hinter Türen und Gardinen:
Eine schwarze Kurzhaarfrisur, ein langer Mantel, Absatzschuhe, Lippenstift und in der Hand so ein Köfferchen aus Kunstleder. Das war ein Schock. So eine Frau gehörte in Filme, auf Fotografien oder eben nach Berlin, aber was machte sie auf unserer Oberen Dorfstraße?"
In der Hypnose erfüllt sich ihr Traum von einer Parisreise, und sie ist davon so begeistert ist, dass sie beschließt, ganz aufs Dorf zu ziehen und aus Michas Bauernhof eine Art Reisezentrum zu machen.
Landleben mit Fernreisen
Sie kündigt ihren Job als Sekretärin bei VEB Lacke und Farben, zieht zu Michael und organisiert nicht nur ihr eigenes Leben neu, sondern seins gleich mit. Im Dorf wird gewispert und gemunkelt, dass da wohl eine Sekte entstehe und überhaupt, wie das denn alles ohne Geld gehen soll: fließendes Wasser, Fernwärme, Bad, Küche, wohnliche Zimmer. Aber Anika weiß, wie's geht: Eine Hand wäscht die andere, auch im sozialistischen Dorf. Sie besorgt Lacke und Farben, dafür kriegt Micha seinen Wasseranschluß. Durch Zusammenarbeit mit einem Glaskünstler, dem Vorsitzenden der LPG, dem Friedhofsgärtner und dem Pfarrer finanziert sich das Leben des „Kunsthandwerkshandels" im Ringtauschgeschäft fast von allein.
„Aber wir müssen aufpassen. Egal, wie wir es formulieren, welche Formulierungen wir uns auch zurecht legen – das, was wir hier machen, ist nicht geeignet, Begeisterung bei den staatlichen Stellen hervorzurufen. Und darum ist es gut, engen Kontakt zu örtlichen Führungsspitze zu halten."
Reich der Gedanken
Die Oase der Glückseligkeit „in der Mitte von Nichts" findet natürlich irgendwann ein jähes Ende, denn auch wenn niemand was sagt im Dorf „und sich angeblich keiner für irgendwas interessiert" - belauert wird dieses subversive „Reisebüro für Westreisen" natürlich umso mehr. Irgendwann steht die Stasi vor der Tür.
Jakob Hein baut ein überaus vergnügliches „Reich der Gedanken", erzählt die kuriose Geschichte aus den unterschiedlichen Perspektiven der Hofbewohner und stellt ihnen die detaillierten Erkenntnisse und Beobachtungen der Dörfler entgegen, denen natürlich nichts entgeht. Ein Stück Leben aus der DDR wird lebendig, aber vor allem der Versuch, sich selbst ein Paradies zu schaffen.
„Ich konnte mich zwar nicht nach außen befreien, aber der Weg nach innen stand mir offen.
Mit geschultem Blick – Jakob Hein ist Kinder- und Jugendpsychiater – zeichnet er heiter und liebevoll die Sehnsucht seiner Protagonistinnen nach. Die Macht der Gedanken eröffnet immer Fluchtwege, so die Botschaft, und das Paradies ist gar nicht so weit, wenn man der Fantasie erlaubt, sich einfach mal selbständig zu machen.
(Christiane Schwalbe)
Jakob Hein, *1971 in Leipzig, Psychiater und Autor zahlreicher Bücher, lebt seit 1972 in Berlin
Jakob Hein „Der Hypnotiseur"
oder: Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken
Roman, Galiani 2022, 208 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro
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