Julia Schoch
Das Vorkommnis
„Doch was weiß man von der Liebe, dem Leben der Eltern vor der eigenen Geburt, diesem undurchdringlichen Raum, dem Vorzimmer zum eigenen Leben.“
Unerwartete Veränderungen
Nach einer Lesung erfährt die Ich-Erzählerin, dass sie eine bislang verschwiegene Halbschwester hat, die ihr Vater als Tochter anerkannte und die als adoptiertes Kind aufwuchs. Sie fällt der unbekannten Frau, die ihr beiläufig eröffnete, den gleichen Vater zu haben, spontan um den Hals – doch erst viel später entschließt sich die Autorin und Dozentin, dem Schock nachzuspüren, den diese Begegnung auslöste. Kunstvoll setzt Julia Schoch, die nach mehreren Romanen zuletzt ein Theaterstück schrieb, diese Suche im ersten Teil ihrer ‚Biografie einer Frau‘ in Szene: „Ich hatte Lust, in den Keller zu steigen und etwas zu ergründen, was mir selbst noch unklar war.“(Gespräch mit Ulrike Schieder) Das Ziel ist dabei nicht, Klarheit zu schaffen, sondern in vielen Verästelungen dem komplexen Weg zu folgen, wie Ereignisse zu Erinnerungen werden, wie diese überschrieben werden oder im Gedächtnis anderer eine andere, fremde Form annehmen, die wiederum das eigene Erleben beeinflusst und verwandelt. Die Ich-Erzählerin weiß sehr wohl, wie sich Überraschungen in das gewohnte Leben einpassen.
„Wir gehen unserer Arbeit nach. Wir funktionieren. Vielleicht ist es besser so. Auf diese Weise versuchen wir, der zerstörerischen Kraft unerwarteter Veränderungen aus dem Weg zu gehen. Dem Schock auszuweichen, jenen unzähligen kleinen und größeren Erschütterungen im Leben, die am Ende womöglich sogar der Kitt sind, der die anderen Geschehnisse, die harmloseren, alltäglichen, zusammenhält.“
Spur der Wirklichkeit
Wie das gelingt und zugleich doch unmöglich bleibt, davon erzählt dieser Roman: Die Ich-Erzählerin fährt mit ihrer Mutter und ihren Kindern in die USA, wo sie an einer kleinen Universität in Ohio deutsche Literatur und deutsch-deutschen Streit der Wendezeit unterrichtet. Die fremde Schwester hatte inzwischen behutsam wieder Kontakt aufgenommen, und jetzt, im fremden Land, gibt die Ich-Erzählerin dem Wunsch, mehr zu erfahren, Raum. „Ich wollte einen Beweis, dass ich mich in einer beschreibbaren Lage befand.“ Sie lässt ihre Gedanken schweifen, zur eigenen Schwester, die sich um den kranken Vater kümmert, zur fremden Geliebten des Vaters, die ihre Tochter weggegeben hat, ins Leben ihrer Mutter, die dem Vater von Ort zu Ort, einem Militärstützpunkt zum nächsten folgte und darunter litt, während die Kinder Paradiese erlebten.
Wie beim Entwickeln von Fotografien entstehen allmählich Konturen und Fragmente, die sich zu Bildern zusammensetzen. Julia Schoch reflektiert zugleich über das Schreiben selbst, das immer nur der Spur der Wirklichkeit folgt, unsicher und misstrauisch sich selbst gegenüber:
„Man kann den Leuten nicht erzählen, dass das Ungelebte, die Spekulationen und die Mutmaßungen das eigentliche Leben sind, das Leben, das ungleich schwerer wiegt als das, was man wirklich lebt.“
Kontinent der Ewigkeit
Sie stellt sich das Leben der unbekannten Schwester vor, als perfekte Spiegelung der eigenen Kindheit in einem Raum, „in dem die Sehnsucht genauso eingefroren war wie die Zeit“, und zugleich wird das ‚magische Gewebe‘ phantasierter Beziehungen zur Obsession, aus der sie sich, schreibend, wieder löst. Die Begegnung mit der Halbschwester hätte so auch zum Traum werden können, unwirklich und einverleibt in die Zeit, die sie im fremden Land, in Bowling Green verbrachte, hätte sie sich nicht Jahre später entschlossen, sie wiederzusehen. Ihre Mutter erinnert sie an einen Mann, der damals auf einer ihrer Lesungen sagte,
„Europa war für ihn ein Kontinent der Archive, des Bewahrens, der geschützten Vergangenheit. Dort verschwindet doch nichts, habe er gesagt, es ist ein Kontinent der Ewigkeit.“
Julia Schoch, die das Verschwinden eines ganzen Landes erlebte, verwandelt diese scheinbar ewigen Gewissheiten in Sprache, tastend und doch präzise, leise und doch von schmerzlicher Klarheit. Sie legt offen, wie sie Zettel um Zettel füllte, um das Auftauchen der fremden Schwester zu umreißen, und doch feststellen muss, dass das Schreiben immer auch eine Form der Verdrängung ist. Ihr Roman, dem zwei weitere Erkundungen eines Frauenlebens folgen sollen, verwandelt auch das Vorkommnis selbst, indem es seinen Erschütterungen folgt und sie zugleich infrage stellt.
„Nie weiß man genau, in welcher Gegenwart man lebt. Manchmal sind wir lange Zeit in Gedanken woanders, bei Menschen und Geschehnissen aus einer anderen Zeit, anderen Räumen.“
(Lore Kleinert)
Julia Schoch, *1974 in Bad Saarow, aufgewachsen in Mecklenburg, lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam.
Julia Schoch „Das Vorkommnis“
Biographie einer Frau
Roman, dtv Verlagsgesellschaft 2022, 192 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro