Stephan Abarbanell
10 Uhr 50, Grunewald
Am 24. Juni 1922 wurde er Opfer eines politischen Mordes von Rechtsnationalen, der Außenminister der jungen Weimarer Republik, Walther Rathenau, "ein Mann, den wir bekämpfen und vernichten wollten. Weil er ein Repräsentant all dessen war, was wir hassten, was wir nicht wollten: Es war die Demokratie", erinnerte sich 1962 Ernst von Salomon in einem Film des WDR.
Ins politische Amt gedrängt
In seinem Roman begleitet Stefan Abarbanell die letzte Fahrt des Ministers durch den Grunewald, indem er die Erinnerungen und Gedankenströme des hochbegabten Mannes, der lieber Künstler als Politiker oder Industrieller geworden wäre, lebendig werden lässt und neu montiert, geleitet von der Frage, ob er am Ende dieser Fahrt auch bei sich selbst ankommen kann. Als er sich ins politische Amt drängen ließ, warnt seine Mutter ihn: „Walther, sie werden dich suchen und töten. Kein Jude kann in diesem Land Minister sein“, doch er will sich als Deutscher, als erfolgreicher Industrieller nicht seiner Pflicht entziehen. Wie widersprüchlich die Situation der deutschen Juden zwischen Assimilation und den neuen, zionistischen Ideen war, sorgt in Rathenaus Überlegungen für einen ständig bedrängenden Unterton, hat er sich doch selbst, trotz vieler Erfahrungen mit Antisemitismus, für sicher und frei gehalten.
„Vermögend, gebildet, geduldet, geachtet. Das waren sie jetzt. Ihre Salons, wie die Ediths, waren die neuen Synagogen, die Jeschiwa ihrer Kinder hieß jetzt Kaiser-Wilhelm-Gymnasium, und diese trugen nun selbst Namen, die sich an der preußischen statt an der jüdischen Tradition orientierten; die Söhne hießen Herrmann, Wilhelm, Friedrich, Heinrich, Erich oder Walther, die Töchter Louise, Clara oder Mathilde.“
Sehnsucht nach Glück
Doch Abarbanell portraitiert ihn als Mann, dessen verdrängte künstlerische Seite ihn beunruhigt, und auch seine Zuneigung zu einzelnen Frauen und Männern macht ihn in einer Zeit, die Stärke glorifiziert und nach eindeutigen Entscheidungen verlangt, empfindsam und angreifbarer, als ihm lieb sein kann. Seine Politik der Annäherung an die Siegermächte des Weltkriegs, die als einzige einen Weg aus den Zwängen des Versailler Vertrags zu bieten schien, wurde als Ausverkauf deutscher Interessen geschmäht, als Schande, und die Einigung mit der Sowjetunion galt als Verrat. Abarbanell führt die Zwänge der Selbstbeherrschung eines ganzen Lebens mit denen der Politik zusammen, und in der Begegnung Rathenaus mit einem jungen Fotografen leuchtet seine Sehnsucht nach Glück, das er sich zunehmend verboten und dem Erfolg, der Pflicht geopfert hat, wieder auf:
„Betriebsamkeit, nicht Muße sei die Rettung, rief ihm die eine Kammer seines Herzens immer wieder zu. Die andere sagte etwas anderes: Glück. Vielleicht war deren Rufen mit den Jahren lauter, dringlicher geworden. Das Glück, es hatte in den vergangenen Wochen immer wieder einmal zwischen den täglichen Pflichten und Verrichtungen aufgeschimmert. Aber er traute ihm nicht, fand nicht den Mut, die Verwegenheit, die Freiheit, es als das anzuerkennen, was es war.“
Innere Widersprüche
Wir lernen mit Stefan Abarbanell einen Mann kennen, dessen politische Verdienste zu rasch vergessen wurden, und dessen Vision eines geeinten Europas erst viel später in ihrer Bedeutung erkannt wurde. Was ihn prägte und wie er sich mit seinem Erbe und seiner Zeit auseinandersetzte, macht der Autor sehr nahbar, weil es ihm gelingt, sich in seine Träume und Zweifel hineinzuversetzen, in schöner, angemessener Sprache und kluger, seine Reise in den Tod begleitender Dramaturgie.
„Während das Auto dahinglitt, spürte er, dass er mit der Aufzählung all seiner inneren Widersprüche kaum jemanden von der Integrität seines Ichs würde überzeugen können. Gab es doch in seinem Inneren tatsächlich zwei oder gar noch mehr Bezirke des Ichs. Oder musste er sich das Ich gar als etwas Fluides, Wandelbares, nicht auf immer Festgelegtes vorstellen?“
Briefe, Tagebücher, literarische Zeugnisse standen Abarbanell zur Verfügung, doch vor allem ließ er sich mit Feinfühligkeit auf diesen so widersprüchlichen Mann ein, schaut hinter die Fülle der Fakten und gibt ihm und den ihm wichtigen Menschen eine jeweils neue, literarisch stimmige Stimme.
(Lore Kleinert)
Stephan Abarbanell, *1957 in Braunschweig, Studium ev. Theologie, mehr als 20 Jahre Kulturchef des rbb (Radio Berlin, Brandenburg), lebt in Potsdam
Stephan Abarbanell „10 Uhr 50, Grunewald“
Roman, Blessing Verlag 2022, 256 Seiten 22 Euro
eBook 15,99 Euro