Nils Minkmar
Montaignes Katze
„Genug nun für andere gelebt – leben wir zumindest dies letzte Stück des Lebens für uns“. Ein frommer Wunsch, als Michel de Montaigne 1571 sein Richteramt quittierte und sich ins Privatleben zurückzog
Diplomat und Gelehrter
Zehn Jahre der Studien und des Reisens waren ihm vergönnt, doch in unruhigen Zeiten konnte auf Männer wie ihn nicht verzichtet werden, und 1581 wurde er Bürgermeister der reichen Stadt Bordeaux. Nils Minkmars Roman folgt ihm ins Krisenjahr 1584, als Frankreich hoch verschuldet und von vier Religionskriegen zerrissen und verwüstet in den Untergang zu taumeln schien. Drei Thronfolger namens Henri stritten um die Macht, bis schließlich Heinrich von Navarra als Henri Quatre gekrönt wurde, erster König der Bourbonen, dem es schließlich gelang, die Hugenotten, denen er nahestand, mit dem Katholiken auszusöhnen. Doch danach sah es zunächst nicht aus, als man Montaigne zu Rate zog, den klugen Diplomaten und Gelehrten, stets um Ausgleich bemüht, von dem der Oberste Kommandeur der größten Richtstatt Frankreichs sagt:
„Meiner Meinung nach ist Montaigne einer der wenigen Namen, die unversehrt aus diesen düsteren Zeiten erstrahlen werden.“
Geheime Aufgabe
Minkmar entwirft feingezeichnete Tableaus, in denen man Montaigne in seiner Zeit agieren sieht, entfernt zunächst, wie im „Fernen Spiegel“ der Historikerin Barbara Tuchman über das ebenso krisenreiche 14. Jahrhundert. Umgeben von Frau und Tochter und seinen Katzen, seinem Schreiber und vielen anderen versucht der kränkliche, aber tapfere Bürgermeister sich seiner geheimen Aufgabe anzunähern, mit der man ihn betraut hat, und versucht in Paris, die Machtverhältnisse zu durchschauen, durchaus zum Unwillen seiner Frau Francoise:
„Ihr sollt den Mann erziehen, bei dem seine eigene Mutter, eine Königin, seine Ehefrau, eine Königin, Tochter und Schwester eines Königs, und seine Schwiegermutter, die Königin, allesamt versagt haben?...Hätte es nicht wie üblich um den Trost unehelicher Mütter und die Beendigung von Affären gehen können?“
Auch die Ehefrau und Vertraute Montaignes beschreibt Minkmar als kluge Beraterin, die durchaus Einblick in die Wirren der Zeit hat und die Fallstricke religiösen Eiferertums und die Ignoranz der Mächtigen kennt: „Wir spielen nun Schach, sind Spieler und Figuren zugleich, wie das ganze Land“, sagt sie, als der Besuch Heinrichs von Navarra auf Montaignes Schloss näherrückt.
Schiefer und Sandstein
Oft sind es die Nebenfiguren, deren Blicke auf den Autor der Essays und der luziden Reiseberichte seinem Bild und seiner Zeit Tiefenschärfe und Farbigkeit verleihen. Die Schwester des jungen Schreibers Nicolas etwa, der an der Seite seines neuen, ungewöhnlich duldsamen Herren vor allem vieles lernen muss, erklärt ihm prägnant, was ihn für ein Mensch erwartet:
„Er schreibt klar und deutlich wie Jean Calvin, allerdings geht es nicht um Theologie, Moral oder Geschichte, sondern um ihn, um uns alle. Und er ist auch keiner der gebildeten Langeweiler, deren Anspielungen kein Mensch mehr versteht…Bei ihm liest es sich, als würde man ein leidiges Problem lösen: Wo der Tod ist, bist du nicht, und wo du bist, ist kein Tod. Wenn du liest, sein Buch liest, dann lebst du – und nur darum geht es.“
Wenngleich das Frankreich des 16. Jahrhunderts fremd erscheint, gelingt es Nils Minkmar, über die Konflikte ebenso wie über die Betrachtung des Landes selbst in die fernen Bilder hinein zu blenden und an die Erfahrungen heutiger Leser und Leserinnen anzuknüpfen, dezent und mit freundlichem, kundigem Blick. Bordeaux ist nur eine der schönen französischen Städte, und auch das alte Bordeaux glaubt man zu kennen:
„Es ist eine Studie in Schiefer und Sandstein – das geheime, nordische und keltische Frankreich der grauen Dächer und Mauern und jenes der hellgelben, fast weißen Wege und Gebäude, also das lateinische, fast spanische Frankreich, in dieser Stadt finden sie zusammen, und alles wird, während es umwerfend aussieht, noch komplizierter.“
Kritischer Freund
Und kompliziert ist Politik geblieben: Montaignes Bemühungen um Frieden und Ausgleich zwischen den zutiefst verfeindeten Gruppierungen machthungriger Adliger und Bürger erscheinen auf einmal nicht mehr ganz so entfernt und in der Geschichte versunken, zumal Religion doch immer nur als Deckmantel unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen herhalten musste. Der Autor lässt Montaignes toten Freund und großen Aufklärer Etienne de La Boétie, der ebenso wie er in seiner Jugend als Gerichtsrat tätig war, als seinen Gesprächspartner auftreten, noch immer der beste und kritischste Freund, und macht ihn zu seinem vielleicht wichtigsten Widerpart:
„Statt eine Republik zu fordern, wie wir sie in Venedig erlebt haben und die dort für ein goldenes Zeitalter des Friedens und der Eleganz gesorgt hat, wühlst du in Papieren, um auf den einen Idioten auf dem Thron den nächsten folgen zu lassen.“
Doch wir wissen ja, dass Montaignes Bemühen immerhin zu einer Zeit des Friedens und Wiederaufbaus des Landes führte, die er selbst noch erleben durfte. Welcher Winkelzüge, Mühen der Ebenen und Überredungskünste es bedarf, solches zu erreichen, und welchen Preis es kostet, davon erzählt dieser intelligente und oft auch, wider besseres Wissen über den Gang der Geschichte, heitere Roman.
(Lore Kleinert)
Nils Minkmar, *1966 in Saarbrücken, Historiker, Journalist und Autor; 2006, 2012 und 2017 als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet
Nils Minkmar „Montaignes Katze
Roman, S. Fischer Verlag 2022, 400 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro