Till Raether
Die Architektin
Sie hieß Sigrid Kressmann-Zschach, genannt „die schöne Sigi”, kam aus Dresden mit einem Abschluss als Diplom-Ingenieurin in der Tasche und mit kühnen Plänen im Kopf. Sie wollte in den 1970er Jahren in Berlin ihre spektakulären Ideen umsetzen und Hochhäuser bauen.
Karriere in der Männerwelt
Schon bald eröffnete sie ein eigenes Architekturbüro, heiratete den Kreuzberger Bezirksbürgermeister und Baustadtrat Willy Kressmann und machte in der damaligen Männerwelt rasant Karriere – Motto: „Männer, Häuser und Geld kann man nie genug haben". Sie wusste, wie wichtig Beziehungen sind – am besten in den höchsten Kreisen von Senat und Finanzwelt, gern auch amourös. Selbst wenn das nicht immer geheim blieb - aus der Ruhe zu bringen war sie nicht.
Aber das ist nur die eine Seite dieser selbstsicheren und attraktiven Frau, die als machtbewusste Baulöwin die Berliner Politik gehörig durcheinander brachte. Nach heutigen Maßstäben war sie wohl cool - und skrupellos. Sie wusste, wie man in Westberlin eine gute Presse bekommt: mit schicken Poolpartys und üppigen Empfängen auf Sylt:
„Sylt im Winter ist eben Sylt im Winter, sagte sie. Wir machen eine Strandsauna. Sie lassen, was sie dafür brauchen, aus Skandinavien kommen ... Vormittags Büfett. Und nichts mit Aspik ... Canapés, Krabben-Cocktail, Chicorée-Schiffchen. Nicht immer alles so schwer."
Drehkreuz für die Zukunft
Sie brauchte für ihre Bauvorhaben Geld – und luchste es vielen Investoren, die sich selbst üppige Gewinne versprachen, geschickt aus der Tasche. Dabei wurde mit internen Informationen nicht gegeizt. Im Fall des „Kegel" – so heißt der Steglitzer Kreisel im Roman – ging das schief. Der ragte hoch und einzigartig in den Himmel am Ende der Schloßstraße, aber keiner wollte die Flächen mieten. Die Grundstücke hatte sie zum Spottpreis erworben.
„Schrottland, Fläche, die niemand brauchte. Bis es in Hinterzimmern oder in einem Vorzimmer, in einem Empfangssaal, vor einer Drehtür oder an einem anderen Schwellenort in dieser Schwellenstadt hieß, dort müsste ein Drehkreuz hin, für den Verkehr der Zukunft ... Die Architektin hatte schon Gewinn gemacht, bevor sie überhaupt anfing, den Kegel zu bauen."
Heute ragt das markante Hochhaus immer noch in die Höhe – inzwischen entkernt, ein Stahlgerippe, eingerüstet und möglicherweise zum zweiten Mal eine sogenannte „Investitionsruine" mit ungewisser Zukunft. Gegenspieler der Architektin ist im Roman der junge Praktikant Otto Bretz: Beim 'Spandauer Volksblatt', einer sozialliberalen Tageszeitung zunächst für den Bezirk Spandau, später als 'Volksblatt' für ganz Berlin, lernt er das (lokal)journalistische Handwerk. Und weil auf der Kegel-Baustelle angeblich ein Gespenst gesichtet wurde, passend zu den topografischen Bedingungen des alten Berlins eine Sumpfhexe, begann er zu recherchieren – und stach ziemlich naiv in ein Wespennest, das mit einem politischen Scherbenhaufen endete.
Westberliner Lokalkolorit
Till Raether, Jahrgang 1969 und seit seiner Kindergartenzeit aufgewachsen in Zehlendorf, erzählt die bestens recherchierte und fiktiv aufgehübschte Geschichte überaus lebendig, ausgeschmückt mit viel Westberliner Lokalkolorit und dem genauen Blick für Details – von Sylt und Sülze, Herva mit Mosel, Piccolöchen und Forellen aus dem Römertopf bis hin zu Kellerbars, Finnensauna, „Mottenpest" (Morgenpost), Frontstadt Berlin und Weinbrandpulle im Schreibtisch der Ressortleiterin, die Otto Bretz erklärt, wie das so funktioniert mit dem Schreiben. Aber Raether richtet den Blick auch auf die hämischen und sexistischen Kommentare der damals ebenfalls von Männern dominierten Presse. Eine vergnügliche Lektüre, heiter und aufschlußreich nicht nur für Menschen, die den Westberliner Filz der 1970er Jahre selbst erlebt haben.
(Christiane Schwalbe)
Till Raether, *1969 in Koblenz, Autor und freier Journalist, lebt in Hamburg
Till Raether "Die Architektin"
Roman, btb Verlag 2023, 416 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro