Juli Zeh, Simon Urban
Zwischen Welten
Die Gegensätze könnten kaum größer sein: Theresa ist Biobäuerin in Brandenburg und hat den Hof ihres Vaters übernommen; Stefan arbeitet als erfolgreicher Journalist bei der Hamburger Wochenzeitung „Der Bote". Die beiden haben vor 20 Jahren gemeinsam studiert und drei Jahre lang zusammengewohnt, waren aber kein Paar.
Klima-Taliban
Nach 20 Jahren treffen sie sich wieder, und obwohl es kracht bei dieser Begegnung halten sie weiterhin Kontakt. Per Mail und WhatsApp, später auf Telegram, liefern sie sich sie einen lebhaften und themenreichen Debattenmarathon – freundlich und respektvoll, aber auch ruppig und provokant im Ton. Stefan ist Single und lebt in der „Reden-Schreiben-Lesen-Welt", die Theresa mal verlassen hat. Er nutzt konsequent das Gender-Sternchen und verzweifelt an einem Herzensprojekt: Für eine monothematische Klima-Sonderausgabe des „Boten" sind zwei Aktivist*innen in die Redaktion eingeladen worden, die immer anmaßender werden:
„Es war eine schlechte Idee, die beiden in die Redaktion zu holen. Junge Aktivist*innen sind noch lange keine Zeitungsmacher*innen ... Fahren allen ständig über den Mund. Wir sollen nicht Klimakrise sagen, sondern Klimakatastrophe. Nicht Klimaflüchtlinge, sondern Klimakatastrophenmigrant*innen ... Was mich am meisten schockiert: Keiner traut sich, ihnen etwas entgegenzusetzen."
In der Redaktion wird schon heimlich von den „Klima-Taliban geredet.
Nachholbedarf
Theresa, verheiratet, zwei Kinder und Vorsitzende von „Kuh&Co" hat ganz andere Probleme. Sie leidet unter den ökonomischen Zwängen, muss in aller Herrgottsfrühe aufstehen und die Kühe versorgen, wenn der Melker ausfällt. Sie hat den Hof des Vaters übernommen, einen ehemaligen LPG-Betrieb, keineswegs im Top-Zustand also, mit 200 Kühen im Stall und jeder Menge Arbeit. Gendern ist für sie Spielerei und kein Zeichen von Emanzipation:
„Für uns Ossis ist Emanzipation keine große Nummer. Da habt ihr Wessis einfach erheblichen Nachholbedarf. Bei uns sind die Frauen schon in Vollzeit arbeiten gegangen, als man in Westdeutschland noch als Rabenmutter beschimpft wurde, wenn man ein zweijähriges Kind in die Kita geben wollte."
Gülle in Konservendosen
Zwei Welten, die langsam zerbrechen: Stefan läßt sich ködern - nach einem "Themenheft Klima" und anschließendem „modernen Lifting" der Zeitung soll sogar der Titel in „Die Bot*in" geändert werden - mit ihm als Chefredakteur und mit aktivistischem Anstrich. Theresa driftet immer mehr ab - weil die Menschen lieber billig kaufen und Grund und Boden zum Spekulationsobjekt geworden ist, sieht sie ihre Existenz in Gefahr, füllt in einer Protestaktion Gülle in Konservendosen und fühlt sich von der Politik betrogen:
„Vor Polizei, Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz und diesen ganzen Heuchlern habe ich inzwischen keine Angst mehr. Sie vertreten genau die überdrehte Bürokratie, die mich seit Jahren mit ihren Anordnungen und Richtlinien und Grenzwerten und Genehmigungspflichten und Routinekontrollen und Verboten und Bußgeldandrohungen quält."
Hang zum Klischee
Ein (Brief)Roman zur Zeit, temporeich und unterhaltsam, realitätsnah und dicht am Zeitgeist, aber thematisch überfrachtet und mit Hang zum Klischee - wozu die gestresste und sich radikalisierende Biobäuerin ebenso gehört wie der gutsituierte Kulturredakteur in seiner schicken Altbauwohnung mit Edelküche und einem neuen Verständnis von Journalismus: Aktivismus darf und soll sogar sein. Der Roman spricht so ziemlich alle derzeit aktuellen Debatten an - Ukraine-Krieg, Rassismus, Neonazis, queere Bewegung, Me Too, Fremdenfeindlichkeit, Cancel Culture, Radikalisierung, digitaler Diskurs, Klimawandel, Ossis, Wessis, Social Media ... und ist unterschwellig sogar eine Art Liebesgeschichte.
(Christiane Schwalbe)
Juli Zeh, *1974 in Bonn, Juristin und Schriftstellerin, lebt im Kreis Havelland /Brandenburg
Simon Urban, *1975 in Hagen, Studium der Germanistik, Journalist, Werbetexter und Schriftsteller, lebt in Hamburg
Juli Zeh und Simon Urban "Zwischen Welten"
Roman, Luchterhand 2023, 448 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro, AudioCD 21,95 Euro
Weitere Buchtipps zu Juli Zeh
"Über Menschen"
"Neujahr"
"Leere Herzen"
"Unterleuten"
"Corpus Delicti" - Ein Prozess