Usama Al Shahmani
Im Fallen lernt die Feder fliegen
Eine irakische Familie flüchtet vor dem diktatorischen Regime Saddam Husseins in den Iran. Im Flüchtlingslager wird Aida geboren, 1992 in der Stadt Ghom. Hier wächst sie auf, in halbwegs geordneten Verhältnissen in einer Wohnung in einem Quartier für Flüchtlinge. Nach sechs Jahren geht die Flucht weiter – in die Schweiz.
Schmerzen der Seele
Aida und ihre ältere Schwester Nosche gehen zur Schule, lernen die Sprache, die neue Kultur, nur ihren Eltern fällt es schwer, sich einzugewöhnen und ständig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Der Vater hat Mühe, die Sprache zu begreifen und kapituliert. Der Mutter ist die westliche Kultur ohnehin suspekt, sie verweigert sich, ist ständig krank, beide möchten ihre Töchter ganz im traditionellen Sinne erziehen: "Das Kopftuch ist kein Stück Stoff, sondern ein Teil Eurer Identität". Ebenso wie der Koran: "Dieses Buch macht deine Seele rein." Als Saddam Hussein gestürzt wird, ist für den Vater klar, dass die Familie in den Irak zurückkehrt:
"Gesund sein in der Fremde ist nicht möglich, denn der wahre Ort der Schmerzen ist immer die Seele. .. Wie ein Steinbock in den Alpen müssen wir ständig klettern ... Wir sterben hier jeden Tag, dort werden wir aber nur einmal sterben."
Alles ist männlich
Für die beiden jungen Mädchen ist das ferne Land keine Heimat, im Gegenteil: im Irak angekommen, fühlen sie sich nicht mehr wahrgenommen, unterdrückt, eingesperrt. Als Nosche verheiratet werden soll, fassen die Schwestern heimlich einen Entschluss: Sie wollen erneut fliehen, allein, nur mit Hilfe eines Onkels, der schon länger in der Schweiz lebt und die Flucht von dort aus einfädelt.
"Vater hatte uns angelogen. Das war nicht die Heimat, von der er uns in der Schweiz erzählt hatte. Alles hatte eine männliche Farbe, eine männliche Stimme und einen männlichen Geschmack."
Die Flucht gelingt, auch die Integration. Aida hat Arbeit, einen Freund. Nosche wird tragischerweise bei einem Unfall getötet. Seitdem leidet die Schwester unter Schuldgefühlen, verschließt sich sogar ihrem Freund Daniel. Der Ethnologie-Student quält sie mit Fragen, deren Antworten sie tief in sich verschlossen hat, weil sie schmerzhafte Erinnerungen auslösen könnten. Als er die gemeinsame Wohnung für einen mehrmonatigen Zivildiensteinsatz verläßt, beginnt sie zu schreiben und sich ihr Leben ein zweites Mal zu erobern, auch für Daniel.
An den Ort gekettet
Wegen eines regimekritischen Theaterstücks musste der Autor selbst aus dem Irak flüchten. Er erzählt die Geschichte der Flucht bewusst aus der Perspektive einer Frau, die sich im Islam männlicher Herrschaft unterwerfen muss, aber bereits Freiheit und Selbstbestimmung erlebt hat. Das macht ihr ein Leben im Irak unmöglich, anders als den Eltern, die sich in der Schweiz abgelehnt fühlten. Es geht also um Heimat, um ein Gefühl der Identität in einer vertrauten Umgebung, das man sich erkämpfen muss.
"Heimat bedeutet mehr, als meine Eltern begriffen. Eine Heimat kann man nur dann verlieren, wenn man sie an einen Ort kettet. Oder weshalb freuten sich meine Eltern nicht, dass sie den Krieg überlebt hatten? Wieso wollten sie nur im Schatten des Dorfs leben und ignorierten die Sonne anderswo, egal, wie groß sie war? ... Für uns war das Wort 'Rückkehr' etwas Unbegreifliches, wir waren ja noch nie da."
Integration statt Anpassung
Usama Al Shahmani verknüpft Themen, die untrennbar mit einer Migration verbunden sind, zu einem Netz ganz unterschiedlicher Gefühle und Erfahrungen. Er tut es in einer Sprache, die beeinflußt ist von der arabischen Muttersprache, Wörter und ihre Bedeutungen in die neue Sprache hineinträgt und sich poetisch mit ihr verbindet - nicht nur im wunderbaren Titel. Es geht ihm um den Spagat zwischen zwei Lebensweisen, einmal vorwärts in die neue und einmal rückwärts in die alte Kultur gerichtet, um die Qual der Älteren, sich westlichen Normen anzunähern und die Mühelosigkeit, mit der es ihre Kinder tun, um die Sehnsucht nach Schutz, Geborgenheit und Freiheit. Zugleich gewährt er vielfältig Einblick in die zurückgelassene Kultur, ihre Lebens- und Moralvorstellungen und erklärt damit die Schwierigkeit einer Integration, die nicht nur Anpassung sein will.
Ein kluges, einfühlsames und berührendes Buch, das Gründe für eine Flucht auch dann verstehbar macht, wenn sie nicht nur in Krieg, Gewalt und Elend liegen:
"Im Irak war alles anders, und alle wollten uns verändern. Alles dort ist Religion und Tradition, man hat das Gefühl in einem Gefängnis zu leben. Und als Frau musste ich immer gehorchen ... Dort gab es plötzlich keine Ziele mehr, außer den Erwartungen und Wünschen der anderen gerecht zu werden."
(Christiane Schwalbe)
Usama Al Shahmani, *1971 in Bagdad, Studium der arabischen Sprache und Literatur, kam 2002 als Flüchtling in die Schweiz, wo er jetzt als Autor, Dolmetscher und Übersetzer lebt
Usama Al Shahmani "Im Fallen lernt die Feder fliegen"
Roman, Limmat-Verlag 2020, 240 Seiten, 24 Euro
eBook 19 Euro
Weiterer Buchtipp zu Usama al Shahmani
"Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt"
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