Elena Ferrante
Lästige Liebe
Millionen haben ihre "Neapolitanische Saga" verschlungen: Elena Ferrante, deren Identität ein schönes Geheimnis bleibt, hat natürlich auch mal angefangen zu schreiben. Ihr Debütroman verweist in vielen Details auf ihren vierbändigen Welterfolg – und bedient doch keinerlei konkrete Erwartung.
Zwischen Liebe und Hass
"Lästige Liebe" ist ein Roman über eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung, die sich irgendwann zwischen Liebe und Hass manifestiert hat:
"Meine Mutter, die seit Jahren nur noch als lästige, manchmal auch quälende Pflicht existiert hatte, war tot. Aber während ich kräftig mein Gesicht abrieb, … wurde mir mit unerwarteter Zärtlichkeit bewusst, dass mir Amalia unter der Haut saß wie eine warme Flüssigkeit, die mir irgendwann injiziert worden war."
Als die Ich-Erzählerin Delia dies schreibt, hat sie bereits einige Stationen einer mühsamen Odyssee durch ihre Kindheit in Neapel hinter sich. Denn ihre Mutter ist tot, ertrunken. Eigentlich wollte sie ihre Tochter Delia in Rom besuchen, kam aber nie an:
"Meine Mutter ertrank in der Nacht es 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem ort namens Spaccavento … in dieser Gegend hatten wir Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater noch bei uns lebte, sommers ein Zimmer in einem Bauernhaus gemietet und schliefen den Juli über zu fünft auf nur wenigen, sehr heißen Quadratmetern."
Reise in die Vergangenheit
Zur Beerdigung fährt Delia nach Neapel, in die verhasste Stadt ihrer Kindheit. Sie will herausfinden, wie und warum ihre Mutter starb. War es Mord, ein Unfall, Selbstmord? Aber es wird keine akribisch-kriminalistische Suche nach Motiv und Tat, sondern eine emotionale Reise in die Vergangenheit, zu einer Frau, die ihr schon lange fremd geworden ist. Sie begegnet ihrem Onkel, ihrem Jugendfreund, dem Geliebten ihrer Mutter, der sie zu verfolgen scheint, der Nachbarin, die soviel gesehen hat und den Vater kennt: "Er fuhr schnell aus der Haut. Ihm zufolge klang Amalias Ton zu leicht gewinnend, waren ihre Handbewegungen zu schmachtend und war ihr Blick lebhaft bis zur Unverschämtheit ... für ihr angenehmes Wesen bestrafte er sie mit Ohrfeigen und Fausthieben." Sie erinnert Gewalt und Sexualität, findet einen Koffer mit Reizwäsche, entdeckt in der mütterlichen Wohnung Kleider, die ihr passen, glaubt, dass ihre Mutter ein Doppelleben geführt hat und begreift schließlich, dass sie das alles nicht für sich selbst, sondern für Delia, ihre Tochter gekauft hat.
Es bleiben Bruchstücke
Nicht nur die Stadt Neapel mit all' ihrem Lärm und Gestank, den engen Straßen, den dunklen Hausfluren und der Armut in ihrem Stadtviertel erstickt sie fast, vor allem sind es die Erinnerungen an eine Zeit, die ihr den Atem rauben, die sie am liebsten verdrängen und auslöschen würde. Es ist kein gradliniger Weg, den Delia einschlägt, er ist verworren, irritierend, traumatisch und beängstigend - wie es eben Erinnerungen an eine Kindheit sind: Bruchstücke, die nicht mehr zueinander passen wollen, vom Unterbewusstsein verschoben, verändert, verdreht und zeitlich versetzt. Im Rückblick werden Mutter und Tochter zu Konkurrentinnen - ein unauflösbarer Konflikt, den der Tod der Mutter nur scheinbar beendet. Was stimmt, was ist erfunden, was wirklich passiert? Es gibt keine klaren Antworten, "Lästige Liebe" bleibt ein mysteriöses und verwirrendes Psychogramm einer zerstörerischen Beziehung.
(Christiane Schwalbe)
Elena Ferrante ist das Pseudonym einer anonymen italienischen Schriftstellerin, die 1943 in Neapel geboren ist und als wichtige Vertreterin zeitgenössischer Literatur gilt.
Elena Ferrante "Lästige Liebe"
"L'amore molesto" übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger
Roman, Suhrkamp 2018, 206 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 15,30 Euro
«Lästige Liebe» ist der Debütroman von Elena Ferrante, 1992 im italienischen Original erschienen (L’amore molesto), zwei Jahre später erstmals ins Deutsche übersetzt und jetzt in einer Neuübersetzung von Karin Krieger erschienen.
Weitere Buchtipps zu Elena Ferrante, alle bei Suhrkamp:
"Zufällige Begegnungen"
"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
"Tage des Verlassenwerdens"
"Frantumaglia" Mein geschriebenes Leben
"Frau im Dunkeln"
"Die Geschichte des verlorenen Kindes" Band 4 - der Neapolitanischen Saga
"Die Geschichte der getrennten Wege" Band 3 - Erwachsenenjahre
"Die Geschichte eines neuen Namens" Band 2 - Jugendzeit
"Meine geniale Freundin" Band 1 - Kindheit und frühe Jugend