Dieter Wellershoff
Was die Bilder erzählen
Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum
Wirklich ein Rundgang: Wellershoff bietet an, dass wir uns das Buch als Museum vorstellen - viele Räume voller Bilder, durch die wir hindurch schlendern; und der Schriftsteller, ein kluger alter Herr von 88 Jahren, wäre dann an unserer Seite und erzählt uns, was er sieht und was er weiß: über die kunstgeschichtliche Bedeutung, über Bezüge und Erinnerungen, so zugänglich und anregend, weil es ganz und gar persönlich ist.
Mit anderen Augen
Wellershoff ruft z.B. Edward Hoppers "Zimmer am Meer" zu: "Hallo, ist hier niemand?" Er beschreibt den Raum - "keine Unordnung, reglose Stille, aber das Meer" – das sieht man auf dem Bild – "es steigt und steigt", ein starker Eindruck! Genau so sollte man mit Bildern umgehen: schauen und herausbekommen, was einen erreicht, was man wirklich sieht.
Über René Magrittes "Zimmer des Lauschens" von 1952 schreibt er nur einen Satz: "Man kann den Apfel wachsen hören, bevor er explodiert" – und wir sehen den riesigen grünen Apfel, der auf diesem phantastischen Bild einen ganzen Raum ausfüllt, mit anderen Augen.
Schule des Sehens
Über 230 Gemälde von fast 80 Künstlern hat Wellershoff ausgewählt, und man erkennt seine Vorlieben: Adolf Menzel, dicht gefolgt von Gerhard Richter und Lucian Freud. Mit den Sittendramen und Machtkämpfen der Renaissance beginnt er, mit dem wunderbaren Satz: "Wir schauen in die Vergangenheit und die Vergangenheit schaut zurück."
Wir sehen zwei Portraits junger Männer, gemalt von Botticelli und da Messina - und wie so oft bei Portraits glauben wir sie durch intensives Betrachten tatsächlich kennenzulernen, und Wellershoff erzählt, was er über sie herausgefunden hat. Seine Schule des Sehens endet mit Neo Rauchs "Sucher" von 1997 – ein Mann mit einem Metalldetektor entfernt sich von einer Staffelei und Farbtöpfen, fast in der Perspektive eines Comicstrips, und Wellershoff fragt: "Was sucht er? Ein neues, noch nicht gesehenes Bild?"
Unterwegs in der Karibik
Wir können auch Maler entdecken, die man überhaupt nicht kennt, weil sie auf dem Markt nicht vertreten sind: den Waliser Handel Evans zum Beispiel, der zehn Jahre lang in der Karibik unterwegs war. Mit dem Autor bewundern wir die Vielfalt und Raffinesse seiner Malerei. Wellershoff lernte ihn kennen, als er ihm eine Grafik abkaufte, und würdigt die Haltung, mit der der Maler seine Enttäuschung über ausbleibende Erfolge verbarg.
Das Meer entdecken
Das Meer ist nicht nur im Kapitel "Welle und Meer", mit Hokusais "Große Welle", Gerhard Richters "Ozean" und Courbets "Woge" ein wichtiges Motiv. Bei Max Beckmann 1928 zum Beispiel zeigt es sich beim Blick aus seinem Hotelzimmer in Scheveningen. Wellershoff erzählt, wie der Maler das Meer und teure Badeorte entdeckte, aber er erkennt auch schon seine Vorahnung auf die Weltwirtschaftskrise ein Jahr später, und was dann folgte.
Mit Witz und Respekt
Piet Mondrian kennen wir von seinen geometrischen bunten Flächen, aber sein "Meer nach Sonnenuntergang" ist vollkommen anders, man erkennt es an seinen weißen und blauen Wellen, aber der bunte Strand ist schon vollkommen abstrakt, mit blauen Tupfern auf roter Fläche, und gänzlich ungeometrisch. Wellershoff lässt seine Kunstwerke als Ausdruck ihrer Zeit lebendig werden - mit Lebensklugkeit, Witz und Respekt vor den Künstlern.
(Lore Kleinert)
Dieter Wellershoff "Was die Bilder erzählen"
Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum
Kiepenheuer & Witsch 2013, 368 Seiten, 39,99 Euro