Edmund de Waal
Die weisse Straße
Auf den Spuren meiner Leidenschaft
"Folge einer Linie. Folge einer Idee. Folge einer Geschichte. Folge einem Rhythmus." Edmund de Waal war siebzehn, als er zum ersten Mal Porzellanerde in die Hände bekam, nachdem er während seiner gesamten Schulzeit jeden Nachmittag bei einem Töpfer gearbeitet hatte.
Eine Pilgerfahrt
Hier nahm seine Obsession für das 'weiße Gold', das seit tausend Jahren die Begierde von Fürsten, Händlern, Alchimisten und Künstlern beflügelt, seinen Anfang. Die 'weiße Straße' ist der Weg ins Innere seines Geheimnisses, denn fünfhundert Jahre lang wusste im Westen niemand, wie Porzellan gemacht wird.
"Es muss, das fühle ich, irgendeine Verwandtschaft geben zwischen dem Urgeheimnis des weißen Porzellans und dem Versprechen in Erfüllung gegangener Sehnsucht, einer Art Arkadien."
Nach seinem ersten Buch, "Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi", das zum international gefeierten Bestseller wurde, war de Waal sich über das Ausmaß und die Anforderungen einer Recherche im Klaren: "diese Pilgerfahrt werde ich planen", schreibt er, und er weiß auch, dass das Ziel der Pilger letztlich sie selbst sind. Sein Staunen über die kleine Vase, die Marco Polo als vielleicht erstes Objekt aus Porzellan nach Europa brachte, weist ihm den Weg.
Zwischen Grün und Blau
Die eigenen Lebenserfahrungen mit dem widerspenstigen Stoff werden beständig mitreflektiert, wenn er in Jingdeshen die Grundstoffe Kaolin und Petuntse begutachtet oder in Dachau die großäugigen Bambis, von KZ-Häftlingen hergestellt, für die Hitler sich begeisterte. Dass Porzellan Wälder und Hügel verschlingt, Flüsse versanden lässt und die Lungen versehrt, spart er ebensowenig aus. Und er bezieht die Verhältnisse derer ein, die in China seit tausend Jahren Gefäße aller Art für die Mächtigen brannten, glasierten, bemalten und verzierten und oft mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit bezahlten, immer auf der Jagd nach der von Dichtern besungenen Perfektion.
"Seladon, die Farbe zwischen Grün und Blau, ist 'Himmel nach dem Regen' und 'Eisvogel' und 'Eiswasser', alles lyrisch. Ein Gedicht aus der T’ang-Dynastie vergleicht eine Garnitur Teeschalen für den Kaiser mit 'hellen Monden, geschnitzt und mit Frühlingsquell gefärbt/ Wie gewölbte Scheiben aus dünnstem Eis, gefüllt mit grünen Wolken/ Wie uralte bemooste Bronzespiegel, die auf der Matte liegen/Wie zarte Lotosblätter voller Tautropfen, dahintreibend am Bachesrand!'"
Von China nach Versailles
Man muss keineswegs ein Kenner oder Liebhaber von Porzellan sein, um sich von de Waals kenntnisreicher Begeisterung mittragen zu lassen. Begleitet vom Bericht des Jesuitenpaters Père d’Entrecolles, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts in China missionierte und ein kundiger Beobachter der Bedeutung des Porzellanhandels war, verfolgt er den Weg des weißen Goldes nach Versailles, an den Hof August des Starken von Sachsen und schließlich nach England. Hier stieß der Apotheker und Quäker William Cookworthy um 1740 auf den Bericht des Jesuiten, was es zur Herstellung von Porzellan braucht, und er wurde zum Abenteurer, der den weißen Felsen Cornwalls den Grundstoff abjagen wollte, um es England zu ermöglichen, den Manufakturen von Meißen Konkurrenz zu machen - pragmatisch, hartnäckig und mit Sinn für Härte und Fragilität.
"Alls, was mit Porzellan zu tun hat, ist ein Geheimnis. Alles wird weggeschlossen. Die geheimen Formeln selbst werden 'in einer Schatulle mit drei verschiedenen Schlössern und Schlüsseln, von denen einer in den Händen der Erfinder bleibt', abgelegt, versperrt und sicher verwahrt; die anderen Schlüssel haben die Investoren."
Leuchtendes Weiß
Edmund de Waal folgt den Ideen vom Porzellan quer durch Europa, mit dem gleichen leidenschaftlichen Interesse, das die antrieb, die das Geheimnis entschlüsseln wollten, und mit der Gabe, genau zu beobachten, Querverbindungen zu ziehen und sich endlos zu begeistern. Dass dabei manche Linien ins Leere laufen und sich mäandernd verlieren, hat meinem Lesevergnügen keinen Abbruch getan.
"Ich verwende all das vollkommene, vorläufige, tröstliche, melancholische, bedrohliche, leuchtende Weiß von meiner Reise", schreibt er, als er in seinem neuen Studio in West Norwood 2455 Gefäße für seine New Yorker Installation "Atemwende" formt, aus Porzellanmasse aus Limoges und Porzellanerde aus Cornwall, einem Material, "das jede Denkbewegung, jeden Wechsel der Gedanken aufzeichnet".
Der Spurensuche nach der eigenen Herkunft hat der berühmte Keramiker mit diesem Buch die Geschichte einer Leidenschaft hinzugesellt, die ihn erneut als kundigen Autor ausweist, einer Biografie ebenso wie eines Reiseberichts und einer Suche, einer Kulturgeschichte und einer philosophischen Reflektion gleichermaßen.
(Lore Kleinert)
Edmund de Waal *1964 in Nottingham, Professor für Keramik, Künstler und Schriftsteller, lebt in London
Edmund de Waal "Die weiße Straße"
Auf den Spuren meiner Leidenschaft
"The white road" aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Hilzensauer
Roman, Paul Zsolnay Verlag 2016, 464 Seiten, 26 Euro