Klaus Reichert
Wolkendienst - Figuren des Flüchtigen
Mal dicker Plüsch unter der Maria mit dem Kind, mal kniet die Gottesmutter auf einer "flauschigen Kunstwolke", dann wieder ziehen Engel einen weißen Vorhang an den Zipfeln hoch, als hängten sie große Wäsche auf.
Feinste Schattierungen
Klaus Reichert notiert diese Impressionen aus der venezianischen Kirche San Sebastiano gewissenhaft in seinen Wolken-Tagebüchern, zwischen Hamburg, Berlin, London, dem Elsass, Wien oder eben Venedig. Hier macht er die Leser mit den Studien William Turners vertraut, der 1840 bei seinem letzten Besuch im Hotel Europa wohnte, direkt am Canale Grande mit Blick auf die Dogana und Palladios San Giorgio. Zweihundert Zeichnungen entstanden hier, über hundert Farbstudien, die versuchen, die Farbnuancen der Dunstschleier festzuhalten, feinste Schattierungen wahrzunehmen.
"Bei Turner, zumal dem späten, findet sich das Spiel vom Zeigen und Verbergen als Prozess … Es soll nur ahnbar bleiben, dass da etwas ist oder war, das hinter den atmosphärischen Erscheinungen aus nuanciertesten Pigmenten, den Dünsten und Nebeln und Wolkenreduktionen auf ein paar Farbstriche verschleiert ist … ein 'Offenbares Geheimnis‘'"
Blick auf Wolken
Nach Venedig kehrt Reichert immer wieder zurück, inspiriert von Turner, aber auch allen anderen Malern - van Gogh, Tizian, Caspar David Friedrich oder Constable - auf deren Wolkendarstellungen er unser Augenmerk lenkt, und wer sich seinem "Wolkendienst" anschließt, wird diese Bilder mit anderen Augen betrachten. Doch nicht nur den Visionen der Maler ist er gefolgt, sondern ebenso den flüchtigen Himmelsgebilden im Werk der Musiker und Dichter, und er spürt dabei überraschende Zusammenhänge auf, etwa wenn er in Wagners Musik, ihren kleinsten Übergängen und der unendlichen Ausdehnbarkeit lauter Kriterien für Wolkenbeschreibungen entdeckt. György Ligetis durchlässige Klanggewebe wurden vom Vortrag des Philosophen Karl Popper "Of Clouds and Clocks" angeregt, und Busonis musikalische Sprache war von der Wandelbarkeit der Wolken inspiriert:
"Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben, und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinung selbst."
Den Himmel beobachten
Klaus Reichert, der nach seiner Zeit als Lektor und Professor für Anglistik Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war, wird dem flüchtigen Gegenstand seines Interesses gerecht, indem er die Fundstücke aus seinen Himmelsbeobachtungen, den Streifzügen durch die Museen, den Künsten seit der Frühzeit der Menschen spielerisch und souverän mischt, beweglich, nur scheinbar ungeordnet, aber von immensem Wissen unterfüttert. Er weiß, dass sich das Flüchtige nicht festhalten lässt und vertraut zugleich auf der Macht der Wörter, der Beschreibung, der anregenden Verknüpfung, und als Leser können wir uns in diesem schönen, durch Abbildungen angereicherten Band frei bewegen.
Wolkenstudien
In der poetischen Sprache des Dichters lädt er ein, mit seinen Augen zu sehen, etwa wenn er in der "Wolkenstudie 2013" der Fotografin Barbara Klemm ein kleines Flugzeug entdeckt:
"Ohne Kondensstreifen, der offenbar vom Schatten schon absorbiert oder zu noch ahnbaren weißen Resten vom Wind zerstoben ist. Es fliegt in Gegenrichtung zum Zug der Wolken. Das Menschenwerk scheint wie ein Memento gesetzt, denn erst durch dieses Flugzeug wird die unermessliche, jedes Menschenmaß übersteigende Größe der Wolken fassbar im Bild. Oder sollen wir es umgekehrt lesen: ein tapferer kleiner David gegen die Goliaths der Natur? Je länger man schaut, desto geheimnisvoller wird das Bild."
Frühe Himmel
Warum er selbst Wolken und Himmel erst spät entdecken und sich ihrer Faszination hingeben konnte, erklärt Klaus Reichert, der 1938 geboren wurde, im kurzen Text "Frühe Himmel" noch vor seiner Einleitung: Bombenkrieg und Tieffliegerangriffe verdunkelten den 'frühen Himmel' und erst nach ihrem Ende konnte der Junge die "friedlichen Heerscharen" der dicken, silberweißen Wolkenhaufen wahrnehmen.
(Lore Kleinert)
Klaus Reichert *1938 in Fulda, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber, 2002 bis 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt
Klaus Reichert "Wolkendienst"
Figuren des Flüchtigen
S. Fischer 2016, 248 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro