Rüdiger Safranski
Zeit
Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen
Zeit bewirkt, "dass wir einen schmalen Streifen von Gegenwärtigkeit bewohnen", umgeben vom Nicht-Mehr der Vergangenheit und vom Noch-Nicht der Zukunft; und weil Zeit eben nicht nur das ist, was Uhren messen, nähert Safranski sich an, indem er sich auf die Spur ihrer Wirkungen setzt und sich durch das Labyrinth unserer Erfahrungen wühlt, wie sie sich in der Philosophie, der Literatur niedergeschlagen haben.
Stockende Zeit
Am Anfang steht die Langeweile, denn die leere, die stockende Zeit, die nicht vergehen will, fordert den Menschen heraus: Tiere können sich nicht langweilen, aber wir kennen leer verstreichende Zeit und empfinden sie als quälend. Samuel Beckett führt das in seinem Stück "Warten auf Godot" im Gespräch seiner beiden Landstreicher Wladimir und Estragon mit viel Komik als menschliche Grundsituation vor. Dass Langeweile auch in den Mitteln lauern kann, mit denen sie vertrieben werden soll, ist nicht erst angesichts der heutigen Erlebniswelten und Ereignisteppiche offensichtlich.
Totale Gleichmacherei
Kultur, Unterhaltung entspringt der Begegnung mit dem Nichts, und wie unterschiedlich das in der Philosophie und der Literatur begriffen und beschrieben worden ist, fächert der Philosoph Rüdiger Safranski in gewohnt anschaulicher und souveräner Weise auf, vom Altertum und christlichen Mittelalter über die Aufklärung, die Träume der Romantiker bis in die heutigen "Transiträume des Nihilismus", wie er sie nennt, die Flughäfen oder Einkaufsmalls, in denen man der Leere und totalen Gleichmacherei ausgeliefert sein kann. Ein großer Bogen also gleich im ersten Kapitel, und in den folgenden neun, jedes für sich auch als Essay lesbar, baut er immer neue Spannungsfelder auf.
Göttlicher Plan
Im Kapitel über Anfänge begegnen wir z.B. Max Frischs Stiller wieder, dem Mann, der sich neu erfinden wollte und lernen muss, dass das nur geht, wenn er sich selbst annimmt. Diese und viele andere Möglichkeiten des Anfangs sind immer bestimmt von der Weltsicht: Ob wir etwa nur einem Skript folgen, das schon feststeht, sei es durch göttlichen Plan oder die Entschlüsselung unserer Gene, oder die Freiheit haben, uns in einer lebendigen Gesellschaft immer neues Lebensterrain zu erschließen. Im folgenden Kapitel, widmet sich der Autor der Sorge, die durch das Ungewisse, das Unübersehbare der künftigen Zeit hervorgerufen wird. Welche Bedeutung hatte diese Sorge in unterschiedlichen Gesellschaften, und wie wurde sie als Vorsorge gegen die Risiken und Gefahren zu einer Art "Spürhund" für die Folgen menschlichen Handelns?
Sinn der Zeit
Risikokalkulierung gibt den Anstoß für die Vergesellschaftung der Zeit, indem man sie zerlegt und misst. Damit wird möglich, die Zeit gleichzeitig zu erleben, ein historisch sehr neues Phänomen, das sich seit dem 19. Jahrhundert durchsetzt und in "medial rückgekoppelter Gleichzeitigkeit zur gemeinsam erlebten Gegenwart" zu werden scheint. Proust hatte daraus die Inspiration für sein großes Werk zur Erinnerung gewonnen, und von der Heilserwartung des Mittelalters stellte man sich auf den zielgerichteten Fortschrittsprozess um - damit die Zeit, die Geschichte einen Sinn hat.
Kosmische Zyklen
Zeit wurde vergesellschaftet, wurde zu Geld, und wer das Tempo bestimmt, ist längst eine Frage politischer Machtkämpfe geworden. Rüdiger Safranski bezieht deutlich Stellung, denn mit der Beschleunigung wird die Vergangenheit schneller entwertet und die Zukunft mit den Abfällen der Gegenwart belastet. Alexander Kluge nannte diesen Vorgang den "Angriff der Gegenwart auf den Rest der Zeit", und Safranski untersucht die Weltzeit, die kosmischen und auch die natürlichen Zyklen und die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft, für die Zeit keine absolute Größe mehr ist.
Zeit des Bewusstseins
Er baut also wieder neue Spannungsfelder auf, indem er Weltzeit mit der Eigenzeit des Körpers ins Verhältnis setzt. Das menschliche Grundproblem unserer Sterblichkeit wird damit natürlich nicht gelöst, aber wenigstens kann die eigene Zeitspanne als eingebunden in die natürlichen Zyklen erscheinen. Und Safranski betont die innere Zeit unseres Bewusstseins; wir stehen zwar unter der Herrschaft der Zeit, aber erzählend können wir mit ihr spielen. Das Geheimnis der Anziehungskraft von Literatur beruht auf der spielerischen Beherrschung der Zeit. Das Erzählen als Akt der Emanzipation von der Zeit zieht sich durch die menschliche Geschichte von Beginn an - Scheherazade steht für viele andere Erzählungen aus allen Kulturen.
"Mit der Sprache überschreitet man die Grenze des gemeinsamen Ortes und der gemeinsamen Zeit. Man kann über andere Orte und Zeiten kommunizieren … Mit der Sprache und dann der Schrift öffnet sich eine ungeheure Welt von Bedeutungen, jenseits der physischen Welt der gemeinsamen Anwesenheit."
Abschied von sich selbst
Jedes Kunstwerk, schrieb Theodor W. Adorno, ist ein Augenblick – durch Kunst, Kultur, Musik kann das Kontinuum der sonstigen Zeit durchbrochen und eine Pforte zu einer anderen Welt der Erfahrung geöffnet werden, wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise.
Safranskis ungemein anregendes Buch endet mit der Frage, warum es so schwer fällt, loszulassen und von sich selbst Abschied zu nehmen, warum der Mensch vor dem "Abgrund des Nichtseins" zurückbebt - das Wissen, das Welt und Zeit weitergehen werden, kann diese Spannung nur erträglicher machen.
(Lore Kleinert)
Rüdiger Safranski *1945 in Rottweil, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, lehrt seit 2012 als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin Philosophie
Rüdiger Safranski "Zeit"
Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen
Hanser 2015, 272 Seiten, 24,90 Euro
eBook 18.99 Euro