Natascha Meuser
Zeichenlehre für Architekten
Handbuch und Planungshilfe
Bevor das schöne, leuchtendgelbe Buch geöffnet werden kann, muss ein graugelb gewebtes, elastisches Band abgestreift werden – Markenzeichen der Reihe Handbuch und Planungshilfen. Eine Welt öffnet sich, und wenn sie auch in erster Linie für Architekten und technische Zeichner, die die Methodik der Raum- und Körperdarstellung wiederentdecken und ernst nehmen, wichtig ist, so bietet das Buch doch Inspiration und Anregung für alle, die sich für künstlerische Ausdrucksformen begeistern können.
Virtuelle Entwürfe
Gleich zu Beginn führt der Hamburger Kunsthistoriker Klaus Jan Philipp in die Geschichte der Architekturzeichnung ein, von ersten Skizzen bis zur Präsentationszeichnung – der Weg zum virtuellen, computergestützten Entwurf ist zwar folgerichtig, doch die Beschleunigung beschneidet die Besonderheiten und Details des gedanklichen Entwurfs der Handzeichnung. Dass die sinnliche Seite des Bauens verkümmert ist, belegt der Blick auf endlose Bausünden und wird vom italienischen Architekten Burelli kritisch erläutert.
Kühne Fantasien
Anhand von Kostbarkeiten aus dem Museum für Architekturzeichnungen in Berlin können wir Leser dies nachvollziehen: von Piranesis Capriccio mit Palast, in brauner Tusche mit Rötelstift Mitte des 18. Jahrhunderts leichthändig skizziert, über Charles Michel-Ange Challes kühner Fantasie einer Bogenbrücke mit Obelisken in Rom oder Martin Gropius‘ Villa Bleichröder in Berlin bis zu Sergej Tschobans fantastischem Entwurfs des Museums für Architekturzeichnung von 2010. Um die schöpferische Verbindung von Auge, Hand und Kopf herzustellen und einer Idee näherzukommen, muss man sowohl Auge als auch Zeichenhand schulen und sich vor der Präzision, die das Denken tötet, hüten.
Mit Licht und Farbe
Nach dem klugen kunsthistorischen Bogen der Einführung brennt man als Leser darauf, die Übungen im Freihandzeichnen des Zweiten Kapitels auszuprobieren, sich mit Licht und Farbe, Komposition, Perspektive und Raum zu beschäftigen, und als Belohnung kann man sich an den vielen farbigen und schwarzweißen Skizzen erfreuen und an einer sehr gelungenen Auswahl von Freihandzeichnungen zeitgenössischer Architekten – von Zaha Hadid, Yadegar Asisi, Rob Krier und vielen mehr.
Für diesen genussfreudigen und sinnlichen Vorgang muss man kein Architekt sein, denn, so die Herausgeberin, Raumvorstellungsvermögen ist für jeden erlernbar, und wer immer eine Stadt erkundet, sich in unbekannte Räume begibt oder die Formensprache privater und öffentlicher Räume zu entschlüsseln sucht, kann mithilfe dieses fundierten Zugangs zum Zeichnen sehr viel mehr erkennen und erleben.
Blick auf die Perspektive
In den Kapiteln über technisches und perspektivisches Zeichnen werden dann Grundlagen und Darstellungsprinzipien genauer erläutert, detailliert genug für Studenten und Architekten, aber auch geeignet, Flaneuren und Interessierten ein Grundverständnis für Geometrie und Perspektive zu eröffnen. Der Blick für die Wirkung etwa von Licht und Schatten schärft sich, für die vielen möglichen Dachkonstruktionen und Treppen, oder auch für die Unterschiede von Machträumen, die die Autorin und Herausgeberin Natascha Meuser als Illustrationen für "Cicero" mit Filzstift gezeichnet hat.
Der Punkt in Bewegung
Auch wenn digitale Medien den Alltag bestimmen und unverzichtbar geworden sind, ist es doch für Architekten eine Notwendigkeit, zunächst mit Hilfe der Zeichenkunst den Raum zu erobern und kreativ über Struktur und Schönheit zu entscheiden. Die Leser jedenfalls können mit dem Maler und Bauhaus-Lehrer Paul Klee dort beginnen, "wo die bildnerische Form überhaupt beginnt: beim Punkt, der sich in Bewegung setzt." Mit Natascha Meusers Band ist der Spaß dabei garantiert.
(Lore Kleinert/)
Natascha Meuser "Zeichenlehre für Architekten"
Handbuch und Planungshilfe
DOM Publishers 2014, 264 Seiten, 68 Euro