Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Zwei Familien in der Toskana – sanfte Hügel, Sommerhitze, liebliche Landschaft, das reine Urlaubsglück für vier Kinder und zwei Elternpaare: Politikerin und Geisteswissenschaftler, Winzer und Kulturmanagerin.
Gehobene Klasse
Sophie Luise, vierzehn Jahre alt und ältestes Kind in dieser Runde privilegierter Wohlstandsbürger, hat eine Schulfreundin mitgenommen, ein somalisches Flüchtlingskind: „Das ist ja wirklich eine Süße, und so brav, die spürst du gar nicht." Das zarte, dunkelhäutige Mädchen kommt aus Mogadischu, ihre Eltern und der zwei Jahre älterer Bruder haben nach langer, gefahrvoller Flucht Asyl in Österreich gefunden. Es war
„ein wahres Husarenstück der Strobl-Marineks, das somalische Flüchtlingskind mit auf die Reise zu nehmen, Aayana aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien und in eine Geländelimousine zu setzen, die sie in echte europäische Sommerferien der gehobenen Klasse bringen würde."
Sophie Luise will ihr das Schwimmen beibringen, es gibt einen Pool auf dem Grundstück,
„vermutlich der größte private in der gesamten Toskana mit dem tiefsten Blau, das Italien für seine Urlaubsgäste aufzubieten hat."
Aber das scheue Mädchen hat Angst, der Unterricht wird auf den nächsten Tag verschoben. Noch am selben Abend kommt es zu einem tragischen Unglück und Aayana, aus dem Pool scheinbar gerade noch rechtzeitig vor dem Ertrinken gerettet, stirbt im Krankenhaus.
Schockstarre
Auf den ersten vierzig Seiten baut Glattauer eine Szenerie auf, die schockiert. Aber die eigentliche Geschichte beginnt erst jetzt, und sie ist im Kern eine politische, denn sie handelt von der Ignoranz und Empathielosigkeit, mit der auf verschiedenen Ebenen über ein Flüchtlingsleben verhandelt wird, ohne die betroffene Familie überhaupt einzubeziehen. Glattauer nutzt Postings in Internetforen, Chats, Kommentare und Dialoge, außerdem Pressetexte über die juristische Aufarbeitung des Falls, beobachtet die Familien, in deren Köpfen nach anfänglicher Schockstarre bereits die Rechtfertigungen wachsen. Elisa sucht Trost bei ihrem Liebhaber und sorgt sich um ihre politische Karriere, nicht aber um ihre traumatisierte Tochter, die im Internet nach Menschen fahndet, die Ähnliches erlebt haben. Sie trifft auf einen geheimnisvollen jungen Franzosen, der ihr lustige Trickfiguren-Clips schickt:
„Ich komme Frankreich. Paris, du kennst. Jetzt lebe ich Wien. Ich gehe zu hohe Schule Kunst. Ich bin neunzehn. Und du bist fünfzehn, du hast geschrieben... Ich schicke dir noch eine von Pierre pour vous. Gutes Schlaf! Pierre."
Während sich Sophie Luise total isoliert, nur noch mit Pierre chattet, sich in ihn verliebt, gefährliche Päckchen von ihm bekommt, um ihre Traurigkeit zu lindern, sitzen die beiden Elternpaare mit einem Anwalt zusammen und beraten die bevorstehende juristische Befragung. Schließlich ist die Wahrheit
„so facettenreich, dass sie von so vielen Seiten angesehen werden kann und sich jedesmal ein klitzekleines Stückchen verändert. Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt ihre Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters."
An die betroffene Familie aus Somalia und ihr erschütterndes Schicksal wird kein Gedanke verschwendet – bis ein Anwalt in ihrem Namen eine hohe Geldsumme fordert und endlich ein verlorener Brief auftaucht, der das Unglück hätte verhindern können.
Dicht an der Realität
Die Geschichte liest sich wie ein Krimi, Glattauer bleibt dicht an der Realität, moralisiert nicht, beschreibt mit gnadenloser Genauigkeit Kälte, Egoismus und Doppelmoral derer, die Schuld tragen, sich aber hinter fadenscheinigen Ausreden verstecken. Dazu die – sattsam bekannten – höhnischen bis fremdenfeindlichen Kommentare aus dem Internet. Es gelingt ihm, durch immer neue Perspektiven und Entwicklungen die Spannung bis zum dramatischen Schluß durchzuhalten.
„Sie sind nicht spürbar, weil sie unsere Sprache noch nicht sprechen", sagt er in einem Radiobeitrag, „versteckte Menschen in einer anderen Kultur, in einer anderen Sprache. Man muss diese Wände aufschlagen, man muss zu ihnen durchdringen."
Sein Roman tut es - und geht unter die Haut.
(Christiane Schwalbe)
Daniel Glattauer, *1960 in Wien, österreichischer Journalist und Schriftsteller
Daniel Glattauer "Die spürst du nicht"
Roman, Paul Zsolnay Verlag, 2023, 304 Seiten, 25 Euro
eBook 18,99 Euro
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